daheim
Kastanienallee 15/ Ecke Oderberger Straße 8, 10435 Berlin
 
 
 
Ein Haus steht unter Strom: 240 Megawatt   NO 58 - Energie.
42 Künstler wollen schneller Schöner Wohnen.
 
ein Projekt von Wolfgang Krause, Dieter Lutsch, Anja Gerecke, Silvia Lorenz, Stefan Rummel, Peter Müller, Olf Kreisel
 
Dauer Wohnprojekt: 17.9. 2005 bis 15.10. 2005
 
Hausfest und Empfang Rektor Kunsthochschule Berlin-Weißensee:
Sonnabend, den 15.10.2005, ab 20 Uhr
 
Drei Jahre stand es dunkel und leer, das alte Mietshaus (erbaut 1874) an der Ecke Kastanienallee/Oderberger Straße. Nachdem es ars habitandi kurzfristig aus der Insolvenz gerettet hat, sind inzwischen alle Wohnungen verkauft und das Haus steht kurz vor der kompletten Grundsanierung.
.
Alle zukünftigen Eigentümer wohnen bereits jetzt zur Probe in ihrem neuen Zuhause - in den Wohnungen tummeln sich unterschiedlichste Mieter. Das große Hausfest der Eigentümergemeinschaft am 15. 10. ist der Abschluss und Höhepunkt der ersten Etappe der "Tour de Kastanie" auf der Immobilienkarte der Stadt. In nächster Zeit folgen weitere Etappen und einige Umzüge.
.
In den 28 Zimmern des Hauses mit insgesamt 52 Fenstern finden sich 42 Akteure - freie Künstler, Kunststudenten und Gäste aus Berlin, Dresden, Saarbrücken, München, London, Helsinki - um zusammen ein poetisches Bild zwischen Hausbesetzung und Eigentum, Alltag und Exzentrik, für Voyeure mit Muße und Lust an sinnlicher Erfahrung zu schaffen.
Schöner Wohnen ist hier nicht nur Dekor, sondern life-style im neuen Prenzlauer Berg.
.
Unter den Augen des Schweizer Eigentümers Krause-Bösel gehen die Bewohner auf Zeit ihren tagtäglichen Beschäftigungen nach. Krause-Bösel, ein kühler und flippiger Geschäftsmann, der nur auf der Überholspur unterwegs ist, zwischen Bergen und Wasser, notiert in seinem Büro im ersten Stock Auffälligkeiten der Mietergemeinschaft.
.
Ganz oben unterm Dach befindet sich die Gewerbeeinheit von Eva AM Winnersbach, die ein Internet-Büro betreibt. In diese Räume ist der große rote Investorenball gesprungen, der sich immer zu lukrativen Immobilien bewegt und dort verweilt, solange die Geschäfte gären.
.
Daneben hat der Tüftler Leander Hörmann sein blaues Labor eingerichtet. Gemeinsam mit Laser, Fledermaus und Fisch forscht er über Beziehungen zwischen organischem Material und Energieformen. Sein Forschungstagebuch verzeichnet die täglichen Ergebnisse, die ihn oft bis tief in die Nacht wach halten.
.
Im vierten Stock lockt außerdem die Zimmerdisco von Dieter Lutsch durch runde, rotierende Körper und die Schwingungen des elektro­magnetischen Feldes. Zwei Fenster weiter entwickelt er im Umbau-Raum täglich neue Konstellationen. Darunter im dritten Stock fasziniert sein Vorhang, der sich wie beim Aufziehen bewegt, aber niemals öffnet. "I have hope anyway"- wie ein Leuchtturm im Haus hypnotisieren die Morsezeichen seines Gastes Taro Furukata die Betrachter.
.
In der dritten Etage ist ein junges Paar, Peter Müller und Vicky Rausendorf, eingezogen, gemeinsam mit ihrem pflegebedürftigen Großvater. Das gemeinsame Frühstück auf dem Balkon gehört zum Tag, genau wie Peters Hobby, das Trompete spielen und seine abendlichen Pokerrunden. Schnell kann das Geld verloren gehen, das sie tagsüber verdient.
.
Eine der vielen Gäste, die immer wieder vorbeikommen, ist die schaukelverrückte Steffi Stangl: ihre Schaukel, die im Fensterrahmen montiert ist und sie bis auf die Straße trägt, hält die Passanten in Atem.
.
Daneben lebt ein verzweifeltes Mädchen. Silvia Lorenz hält Tag und Nacht Ausschau nach ihrem geliebten Kater Clou, der verschwand, als sie im Krankenhaus war. Allerlei Wege nach Hause baut sie ihm, wenn sie nicht mit Freunden das Haus und die Umgebung mit Suchlichtern durchstreift, um Clou endlich wieder zu finden. Eine Strickleiter hängt vom Fenster herab und vom Dach führt eine Himmelsleiter nach oben. Von den Balkonen am Haus gegenüber blinken in der Nacht Katzenaugen auf.
.
Darunter, im zweiten Stock, treiben zwei überdrehte Minderjährige, Marie-Luise Birkholz und Bettina Libdza, die restlichen Mieter und die Polizei regelmäßig in den Wahnsinn. Eigentlich sollten sie lernen, um endlich ihren 10. Klasse Abschluss nachzuholen, aber viel lieber frönen sie ihren Psychosen. Sie hören überlaut Volksmusik, schlachten Farben (Jackson Pollock - Suite) oder werfen mit Wodkagläsern - und schlafen auch manchmal direkt am Fenster ein.
.
Anja Gerecke, die das Nachbarzimmer im zweiten Stock bewohnt, verbringt ihre Zeit mit konzeptionellem Renovieren. Die farbigen Formen, die sie im sichtbaren Bereich des Zimmers entwickelt, beziehen sich auf die Außenwelt und unterschiedlichste Punkte im Straßenraum. Sie bieten den Rahmen für die exklusivste Party des Hauses. Ohne weibliche Eleganz wird der Zutritt verweigert.
.
Nebenan lebt Stefan Rummel, der irgendwo in Tegel in der Einflugschneise aufgewachsen ist. Als er klein war, liebte er Flugzeuge, inzwischen nicht mehr. Doch er hat sich so ein fliegendes Lärmgehäuse eingefangen und lebt jetzt mit ihm in einem Zimmer. Motorengeräusche sind nicht zu überhören. Wechselnde Lichtfetzen und verschobene Flugbildfragmente blitzen im Raum auf wie Träume und Albträume des verhinderten Blechvogels. Was will dieses High-Tech Wunder?
Immer wieder nimmt man in der Straße den Sound von Starten, Fliegen und Landen wahr.
.
Im ersten Stock lebt der Chemiker Matthias Kebelmann in einer Art Dekompressionskammer. Besessen von der Gefährlichkeit der ihn umgebenden Gase, fühlt er sich erst jetzt wohl, wo sein Raum mit Folie verkleidet ist und alles in weißen Giftschläuchen nach draußen geleitet wird.
.
Den Nachbarn Irena Eden und Stijn Lernout gelang es nach jahrelangen Versuchen, Pflanzen mit genmanipulierten Zittermolekülen zu züchten, die sich in Innenräumen bewegen können. In ausgeklügelten Choreographien bewegen sich die eleganten Pflanzen stundenlang am Fenster.
.
Die Bauleitung sitzt im Raum nebenan, jedoch ist Bauleiter Olf Kreisel auf mehreren Baustellen zugleich unterwegs. Daheim sieht man ihn so gut wie nie, die Scheiben sind schmutzig, das Büro heruntergekommen. Die Knarre vom letzten Einsatz lehnt im Fensterrahmen.
.
Das Sportstudio im Eckzimmer des ersten Stocks hat seit wenigen Tagen einen neuen Leiter, Sebastian Siechold, der beim Fußballspiel streng die Mobilität der Hausbewohner überprüft, zuvor ein spezielles Aufwärmtraining anbietet und stündlich Rasenpflege betreibt. 
.
Auf der Fassade im Erdgeschoss realisiert Frank Diersch als Auftragsarbeit ein Hausbild im Stil von Holger John mit einem unveröffentlichten Text zu Eigentum/ Diebstahl von Bert Papenfuß (Alles für alle) aus der Haufenökonomie.
.
Michael Rogge hingegen hat sich der anderen Seite des Hauses, der Oderberger Straße, zugewandt. Angeregt durch das Falafel-Ufo Dekor zaubert er eine Zen-inspirierte Zeichnung auf die Hauswand.
.
Unter dem Dach hat der autistische Aerospacetüftler Paul Darius seine Satelittenwerkstatt eingerichtet. Nie verlässt er das abgeschlossene Zimmer und baut unablässig an den endlosen Stufen seiner Rakete, mit der er sich selbst oder den Vermieter zu jedem Zeitpunkt in eine andere Umlaufbahn schießen kann.
.
Unter den zahlreichen Gästen ragt die life-Installation an der gesamten Fassade des Eckhauses von Elvira Hufschmid besonders heraus. Die Vor-Managerin hat am 8. Oktober 52 Investoren in weißem Hemd und Krawatte eingeladen, zum sinnfälligen Einstimmen auf den bevorstehenden Transformationsprozess des Hauses. Die Investoren füllten langsam das gesamte Haus und bereiteten visuell auf die kommende Sanierung und Übernahme vor.
.
Matthias Wermke und Wilhelm Klotzek binden mit der Linie "U 10" ab 12. Oktober die spektakuläre Kreuzung Oderberger Str./ Ecke Kastanienallee an den öffentlichen Personennahverkehr an. Die Linie verkehrt zwischen Alexanderplatz und der Kunsthochschule Berlin-Weißensee.
.
Eine Partitur aus assoziierten Begriffen und Formen entsteht als Gruppenarbeit am 21. Oktober im Eckraum zweiter Stock, in der Konzeption und Spielanordnung von Frank Diersch. Jedem der acht Mitspieler/ Zeichner ist ein Buchstabe mit einer entsprechenden Zahl zugeordnet, so dass die vielteilige Zeichnung wie ein interaktives Puzzle einer Eigenlogik aus ständig wechselnden Positionen der Akteure folgen konnte.
.
Konzertmeister Wolfram Korr inspiriert regelmäßig mit seinem virtuosen Violinspiel am Fenster junge Künstler zum Zeichnen ebenso wie zufällige Gäste auf der Straße.
.
Die Rappergang von Rainer W. Ernst und Max-Well Smart proben und toben im popgrünen Kunstrasen- Sportstudio eine Mischung aus BluesGuerilliaGrooves und RockabillyRap.
.
Zu Gast im Haus sind unter anderem Inge Mahn, Lena Panzlau, Alexandra Kiesel, Susanne Hanus, Ingo Gerken, Jacob Jensen, Claudia Brieske und Dong Jong Lee.
.
Eigentum soll man beschriften. Tag für Tag werden die Namen der Hausbewohner an der Fassade von einer Berliner Spezialfirma wie Museumsschilder angebracht.
.
Bis zum Zeitpunkt des Baubeginns gibt es noch zahlreiche Überraschungen im Haus und verschiedene Specials wie die wöchentliche Kehrwoche, eine Eigenheimschnecke, den chinesischen Abend und ein Konzert mit Sir Henry.
.

Inzwischen sind auch besonders involvierte Nachbarn wie Hansa oder David in das Wohnprojekt eingestiegen und reagieren auf 'Schöner Wohnen' oder arbeiten ihrerseits als Gäste des Projekts im Haus.

Kreideschriftzüge wie daheimatlos, daheimathafen .... daheimlich auf dem Gehweg, Eingangskanten oder Steinplatten zeugen davon, wie der Funke aus dem Haus in den Stadtraum übergesprungen ist.

 

Silvia Lorenz / Wolfgang Krause

 

 

Ein Projekt von: Schaustelle Berlin, KHB-Weißensee, o zwei Berlin

 

Wolfgang Krause   | www.daheim-berlin.de  .|  extra verlag